Also, ich bin wieder bei Hendrik. Eines seiner neuesten Werke: «Erklärungsversuche». Vier Schiefertafeln aus Holzmaden. Auf jeder Tafel eine Silberplatte. Zerfurcht von Rissen, aus deren Mitte heraus sich ein Ammonit mit aller Kraft in die Welt drückt. Erst ist nur ein Bruchteil von ihm zu sehen, dann immer mehr, schließlich liegt er fast komplett sichtbar in der Silberplatte. Es sieht aus, als würde ein Küken die Eierschale von innen heraus aufbrechen und sich ins Leben kämpfen.
"Wie hast Du das technisch mit den Rissen hinbekommen?" wundere ich mich. Hendrik lächelt und zeigt mir seine Dekupiersäge mit einem hauchdünnen Sägeblatt. „Das ist eine elektrische Laubsäge". Damit fabriziere er die feinen Risse im Material und erzeuge die Vorstellung des Durchbruchs, erklärt er.
Ich frage Hendrik, warum er sich der Metapher «Geburt eines Ammoniten» widmet, und was es mit dem Titel «Erklärungsversuche» auf sich habe. Wir wüssten doch heute alle, wie Ammoniten entstanden seien. „Die Muscheln sind von einem Meer zurückgelassen worden, das einst das Land bedeckte, um sich wieder zurückzuziehen.“
Wir stehen noch immer vor den vier Tafeln. „Du hast recht, Gerda-Marie, heute gehen wir wie selbstverständlich von dieser Annahme aus. Das war aber nicht immer so. Früher gab es ganz andere Erklärungsversuche, weshalb Muscheln oft weit entfernt vom Meer, bisweilen auf den Gipfeln von Bergen und als Teil des Gesteins, zu finden sind.“ Die Erkenntnis mit dem Meer sei noch relativ jung.
Und Hendrik beginnt zu erzählen. Davon, wie sich die Menschen früher die Existenz der Ammoniten an ungewöhnlichen Orten erklärten.
Wie Pflanzen gewachsen oder von Überschwemmungen herangespült?
Eine der naheliegenden Annahmen: Steine von jeder erdenklichen Gestalt wachsen wie Pflanzen in der Erde. Sie brauchen nur günstige Bedingungen. Wieso sollten Muscheln und Austern nicht aus salzigen Wüstenböden oder auf kalkhaltigem Gebirgsstein sprießen? Und weil der Wind den Samen überall hinträgt, wachsen sie eben auch in den Bergen.
Bereits Aristoteles vertrat diese Hypothese der sogenannten «Spontanzeugung» Allerdings hatte er bereits eine Ahnung davon, dass das Meer eine Schlüsselrolle für die Entstehung der Erde spielen könnte. Er schrieb, das Kommen und Gehen der Meere gehöre zu den grundlegenden Prozessen der Erde. Das Land habe im Lauf der Zeit zahlreiche natürliche Überschwemmungen erfahren. Mit den Überschwemmungen könnten Muscheln in gebirgige Regionen gespült worden sein. Hendrik: "Wie so vieles, gingen diese Erklärungsansätze der Antike im Mittelalter verloren. Alle Erklärungsversuche über die Entstehung der Welt wurden auf das biblische Buch Genesis zurückgeführt."
Die Kruste der Erde ist ein Archiv der eigenen Urgeschichte
"Und wie kam es dann zu einem Erkenntniswandel?" frage ich neugierig. Mein Interesse ist geweckt. Hendrik schaut mich an. "Durch einen jungen Anatomen aus Dänemark. Kennst Du Niels Stensen alias Nicolaus Steno?“ Ich verneine und höre ihm weiter zu. „1638 entwickelte Nicolaus Steno in Florenz eine wissenschaftliche Sicht der Anatomie der Erde. Er entdeckte, dass sich in der Kruste der Erde gleichsam ein Archiv ihrer eigenen Urgeschichte verbarg. Die Erdschichten, die fossile Muscheln einschlossen, waren durch eine allmähliche Ablagerung von Sedimenten entstanden. Jede Schicht verkörpert eine bestimmte Zeitspanne in der Vergangenheit. Die Geschichte der Erde steht Schicht für Schicht in Stein geschrieben.“
Hendrik betrachtet die vier Geburtsstadien seines Ammoniten. "Steno entdeckte die logischen Regeln, nach denen sich die Verwerfung, Hebung, Erosion und Schichtung der Landschaft und des darunter liegenden Grundgesteins in eine klar verständliche Reihenfolge bringen ließen. Mit dem, was er aus dem Gestein herauslas, konnte er eine Geschichte der Landschaft schreiben. Und wenn man diese Logik erweiterte, offenbarte sie die Geschichte der gesamten Erde."
„Mit dieser Erkenntnis stellte sich Steno doch gegen das Denken seiner Zeit?“ resümiere ich und warte auf seine Antwort. „Natürlich, denn der Bibel zufolge waren die Welt und die Objekte der Natur durch den göttlichen Geist erschaffen worden. Erst eine Generation zuvor hatte der Papst den Gelehrten Galileo Galilei gezwungen, sein Bekenntnis zur kopernikanischen Theorie des Sonnensystems zu widerrufen. Die Zeiten änderten sich zwar allmählich, die Renaissance suchte nach neuen Lösungen auf die Fragen der Welt. Dennoch, Wissenschaftler mussten vorsichtig sein.“
Vielleicht sei das der Grund, so Hendrik weiter, dass Steno in seinen öffentlichen Äußerungen merkwürdig zurückhaltend war. Vielleicht entsprang sein Zögern, einen klaren Standpunkt zu beziehen, auch seinem Status als wissenschaftlicher Newcomer, verbunden mit seinem ungesicherten Status am Hofe der Medici.
"Eines ist jedenfalls sicher: Die Genialität seiner Ideen wurde zu seinen Lebzeiten nie vollständig erkannt und gewürdigt." Ich lerne mit jedem Wort und gehe ganz nah an die Schiefertafeln heran. Ich betrachte die Risse in den Silberplatten und verstehe die vier Stufen der langsamen Geburt des Ammoniten als Sinnbild für die langwierige und schwierige Suche nach einer Antwort auf die Frage «Wie entstehen sie eigentlich».
Auf meiner Weiterfahrt in die Eifel denke ich noch lange an die Erzählung von Henrik Hackl über sein Werk «Erklärungsversuche». Ich bewundere Nicolaus Steno: sein Willen zu wissen und zu verstehen, seine gedankliche Spannweite und auch seinen Mut, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Damals war das lebensgefährlich. Wir leben heute in einer freien Gesellschaft. Und gleichzeitig gibt es wieder mehr Staaten, Kulturen, Religionen, in denen der Wert einer Erkenntnis lebensgefährlich sein kann.
Zwei Wochen später, als ich meine Wohnung in München betrete, liegt dort ein Päckchen von Hendrik für mich. Es ist ein Buch: DIE MUSCHEL AUF DEM BERG - Über Nicolaus Steno und die Anfänge der Geologie von Alan Cutler...