Wandskulptur GOLDENE KAMMER

Wandskulptur GOLDENE KAMMER

Eine Betrachtung von Gerda-Marie Adenau

November 2022. Ich saß mal wieder im Auto auf dem Weg in die Eifel. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich war nicht gut drauf. Dabei hatt ich allen Grund, glücklich zu sein. Im März war ich 60 geworden. Dankbar und fröhlich hatte ich mit meiner Familie in Dresden ein langes Familienwochenende verbracht – drei glückliche Tage mit Ausstellungen, Schiffahrt, festlichem Menü und großem Gelächter. 60 werden fand ich toll! Ich hatte gerade meinen Master in Philosophie frisch in der Tasche und beruflich und privat noch einiges vor. Voller Freude stürzte ich mich in mein neues Lebensjahr. Es folgten erfolgreiche und erfüllte Monate, verbunden mit wunderbaren Reisen an Sehnsuchtsorte. Im Spätherbst war es soweit: ich hatte alle meine selbstgesteckten Ziele für das Jahr 2022 erreicht. Ja, rückblickend hätte ich mich stolz und glücklich fühlen können. Tat ich aber nicht.  Stattdessen fühlte ich mich alt. Ich starrte auf die Finger, die auf der Tastatur des PCs klapperten – die Adern, die stark hervortraten, die Falten – das waren die Hände einer alten Frau. Ich schaute in den Spiegel, und mir blickte das Antlitz einer alten Frau mit erschlaffender Haut, dicker Nase und großen Ohren entgegen. Das bin doch nicht ich. Wie hatte diese kafkaeske Verwandlung nur passieren können? Und es waren nicht nur die körperlichen Veränderungen, die mich bedrückten. 

COVID hatte mich im Spätsommer erwischt, und zwar heftiger und länger als erwartet. Der Krieg in der Ukraine mit all seinen Schreckensbildern von getöteten und fliehenden Menschen. Die Revolution im Iran, ausgelöst durch den Tod der jungen Mahsa Amini. Ich fühle mich hilflos, machtlos, mein eigenes berufliches Wirken belanglos. 

Irgendwie - ohne, dass ich es hätte genauer benennen können – hatte mein Leben seinen Glanz verloren. 

Das in etwa ist mein Gemütszustand, mit dem ich in Mannheim ankomme. Ganz im Gegensatz zu Hendrik. In bester Laune erzählt er mir von seinem neuen Auftrag und von interessanten Weihnachtsmärkten, auf denen er ausstellen wird. 

Wir begeben uns in seinen Ausstellungsraum. Plaudernd schreiten wir seine Werke ab. Die meisten von ihnen habe ich schon mehrfach gesehen. Das würde ein kurzer Besuch werden. Aber dann bleibe ich vor einem der Objekte abrupt stehen. Hackl erklärt:

„Diese Wandskulptur habe ich Goldene Kammer genannt. Dazu inspiriert haben mich die Ammoniten mit ihrer schneckenhaften Form. Ich habe die Skulptur angelegt in Anlehnung an eine im Labyrinth einer Pyramide versteckten Grabkammer eines Pharaos. Die Spirale symbolisiert das Labyrinth … und zwischen all den Kammern gibt es viele Irrwege. Nur einer führt zu der Goldenen Kammer.“

Ich trete näher. Der goldfarbene Sandstein erscheint vielschichtig beige bis gelbgold und ist von feinen Linien durchzogen, die aus bräunlich oxidiertem Eisen bestehen. Ein wunderschönes Objekt. Gleichzeitig fühle ich, wie Traurigkeit in mir hochsteigt. Sedimentierte Zeit. So viel von meiner Lebenszeit ist bereits vergangen, was übrigbleibt, ist nur noch totes Gestein.

„Hendrik, darf ich mich ein wenig alleine hier aufhalten?“ frage ich.

„Na klar, Gerda-Marie, ich arbeite nebenan in der Werkstatt.“ Wenige Minuten später höre ich das Summen seines Schleifgerätes. 

Ich schaue die Kammern an. Sie kommen mir vor wie Archive der Erinnerungen. Meiner Erinnerungen. Ich verlasse den sandigen Weg und begebe mich in die braunen Kammern. Begegne meinen Enttäuschungen, meinen Misserfolgen, meinen Sorgen.  Ich durchschreite Beziehungen, die mich letztes Jahr so verzaubert hatten, und die sich mittlerweile schal anfühlen. Das Gefühl des endgültigen Vorbei-und-Vergangen trifft mich mit aller Wucht. 

Und wenn ich nach vorne schaue? Ich bin jetzt 60 Jahre alt – meine Jahre sind gezählt. Was kann ich in meinem Leben noch bewirken? Wo liegt mein inneres Gold, das meinem Wirken und meinem Leben Glanz verleiht?

Ich gelange auf meiner Wanderung zur letzten Kammer, zu goldenen Kammer. Lange schaue ich das Objekt an. Und langsam, aber kräftig, beginnt die goldene Kammer zu leuchten. Sie scheint mich einzuladen. Zögernd begebe ich mich in sie hinein. Tauche ein in das warme Gold. Kostbare Erinnerungen leuchten auf. An mich als junge Frau, lachend, weltoffen, wissbegierig. An mich als Mutter, an Sonntag Nachmittage im Hallenbad und im Kino, an entspannte Ferien am Gardasee. An mich auf dem Pferd die Alpen überquerend. Durch Wiesen und Wälder joggend. An mein Coaching-Projekt und die begeisterte Resonanz aller Beteiligten. All das habe ich erlebt, das macht mein Leben aus. Das hat mich zu der Frau geformt, die ich heute bin. In einer Ecke der Kammer steht eine schwere dunkle Schatztruhe. Ich öffne sie neugierig. Und was finde ich dort: meine Kreativität. Meine Empathie. Mein Humor. Meine Großherzigkeit.  Meine Liebe. Ich lächle. Noch mehr Erinnerungen tauchen auf. Behutsam lege ich die Schätze in die Truhe zurück. Nur den goldenen Ring mit dem Bergkristall, den nehme ich mit. 

Langsam begebe ich mich aus der Kammer hinaus. Schlendere rüber zu Hendrik und lasse mir von ihm eine seine speziellen Arbeitstechniken erklären. 

„Kuchen?“ fragt er. Ich schüttle den Kopf. Heute nicht. Er versteht. Wir verabschieden uns mit einer liebevollen Umarmung. Und ich mache mich auf den Weg in die Eifel – zu meiner Mama, meinen Schwestern, meiner kranken Freundin. Von innen spüre ich ein sanftes Leuchten, nicht viel, aber für den Moment genug.